Monday, January 18, 2010

Das Leiden anderer betrachten

Angesichts der derzeitigen Ereignisse in Haiti bietet es sich an, den schmalen Essayband "Das Leiden anderer betrachten" von Susan Sontag zu lesen.

Sontag, hat mit ihrem fantastischen Essayband "Über Fotografie" eines der wichtigsten philosophischen Werken vorgelegt, das jemals über Fotografie geschrieben wurden (und von jedem Fotografen gelesen werden sollte). Zudem war sie die Freundin (girlfriend) von Annie Leibovitz, und ihre letzten Jahre wurden von dieser fotografisch dokumentiert (die etwas missglückte Zusammenstellung mit professionellen Arbeiten von Leibovitz gibt es als Ausstellung in der Kunsthalle Wien zu sehen)

Im Folgenden einige Zitate aus "Das Leiden anderer betrachten":


„Die Fotografien sind ein Mittel, etwas „real“ (oder „realer“) zu machen, das die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in Sicherheit leben, vielleicht lieber übersehen würden.“ (14)


Bilder stellen also Realitäten erst her, zumindest für diejenigen, die davon nicht direkt betroffen sind. Um das Erdbeben real zu machen, muss man es in Bilder fassen. Das ist die Aufgabe der Fotgrafen.


„In einer Ära der Informationsüberflutung bietet das Foto eine Methode, etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten. Darin gleicht es einem Zitat, einer Maxime, einem Stichwort.“ (29)


Deshalb ist das einzelne Bild, das Foto, auch so mächtig: nur das Standbild wird zur Ikone (in diesem Fall: zur Ikone des Schreckens). Gleichzeitig geht das Standbild in die Erinnerung ein:

„Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können.“ (104)


Andererseits fällt es schwer, außerhalb des Zitats zu denken, wenn man es einmal verinnerlicht hat. Dazu könnte man Hans Blumenberg befragen.

Besonders interessant finde ich folgende Passage:

„Weil sie künstlerisch nicht hoch hinauswollen, wirken diese Bilder weniger manipulativ, weniger darauf angelegt, billiges Mitgefühl und vorschnelle Identifikation zu erzeugen – ein Verdacht, dem heute alle weitverbreiteten Bilder, die Leiden zeigen, ausgesetzt sind.“ (34)


Die Leute mögen insbesondere bei Greuelfotos, das Gewicht der Zeugenschaft, ohne jede Beimischung von Kunst, die mit Erfundenem oder Unaufrichtigkeit gleichgesetzt wird. Bilder vom Grauen wirken authentischer, wenn ihnen das gute Aussehen abgeht. Das kann entweder durch die Amateurhaftigkeit des Fotografen oder durch antikünstlerischen Stil geschehen.

Das deutet aber wiederum auf einen wichtigen Wesenszug der Fotografie hin: Sie ist auf Seite des Produzenten nicht elitär, weil sie stark zufallsbasiert ist und weil es diese Vorliebe für das Grobe, Spontane, Unvollkommene gibt. Dazu: die ersten Bilder die aus Haiti kamen , und die von Tequlia Minsky stammen. Oder auch die bei den world press photo awards ausgezeichnete Serie von der Ermordung Benazir Bhuttos.

Die Fotografie verfügt über ein Doppelpotential: Bildkunstwerke zu erstellen und Dokumente zu liefern. Das gibt Anlass zu Diskussion:

„Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht schön sein, so wie Bildlegenden nicht moralisieren sollen. Ein schönes Foto entzieht nach dieser Auffassung [dass das Bild nicht schön sein darf] dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird. Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Signale aus: Es fordert: Schluß damit. Aber auch: Was für ein Anblick!“ (90)


Interessant ist auch, was Sontag über die Darstellung des Leidens zu sagen hat:

„Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen bekommen.“ (84)


Stimmt. Zumindest kann ich mich nicht an explizite Bilder von aufgeschwemmten Leichen aus New Orleans erinnern. Ich kann mich aber täuschen.


Morgen gibts den zweiten Teil.

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